Sicherheit und Gelassenheit - das bieten Großväter ihren Enkelkindern.

Hoch lebe der Großvater!

6 Minuten Lesezeit

Eine persönliche Geschichte

„Vive le grand-père“ (zu Deutsch: Hoch lebe der Großvater) steht auf einer von Kinderhand bemalten Kachel, die mein Vater sich über seinen Badezimmerspiegel gehängt hatte. Unsere Kinder haben sie ihm, als sie noch klein waren, zum Geburtstag geschenkt. Als ich mein Elternhaus verkauft habe, habe ich die Kachel dennoch nicht abgenommen. Denn sie ist, wie mein Vater, für immer in mein Gedächtnis gebrannt.

Mein Vater war ein wunderbarer Großvater. Ein guter Vater war er wohl eher nicht. Dennoch habe ich mich mit ihm versöhnt, und daran haben unsere drei Kinder keinen unerheblichen Anteil. Mein Vater, geboren 1925 in Pommern, hat unsere Kinder wie auch die Kinder meiner Schwester von Anfang an geliebt. Seine nachgeborenen Enkelsöhne liebte er noch ein bisschen mehr als seine erstgeborenen Enkeltöchter. Töchter hatte er ja selbst zwei. Söhne und erst recht Brüder fehlten in seinem Leben.

Der Verlust seiner drei Brüder war ein Thema, über das mein Vater in meiner Ursprungsfamilie nie gesprochen hat. Erst für seine Enkel, nicht für seine eigenen Kinder, schrieb er seine „Erinnerungsstücke“ auf, darin seine Zeit als Student in Ostberlin, aber auch sein Erleben der Kriegsjahre und der Flucht in den Westen. Der Krieg hat ihm seine drei älteren Brüder und die Heimat geraubt. Als die Nachricht vom Tod seines Lieblingsbruders kam, hat er, so schreibt er in den „Stücken“, einen ganzen Tag weinend in einem Baum hinter dem Bauernhaus verbracht, in dem die Familie lebte. Es gab keinen Trost für ihn. Wie die meisten Männer seiner Generation war mein Vater kein Kümmerer, der Brote geschmiert und Wunden verbunden hätte, das Kümmern erledigte die Großmutter. Aber er war interessiert. Mit Begeisterung und Anteilnahme verfolgte er fast jede Äußerung seiner Enkel, ihn interessierte, was sie neu gelernt hatten, was sie beschäftigte, und später, welche Hobbys sie hatten, er versuchte, sie überall zu unterstützen. Sprachlichen Begabungen gab er natürlich den Vorzug (er war Deutschlehrer), hatte aber auch viel Respekt, wenn einer sich als mathematisch gewieft, künstlerisch oder sportlich erwies. Und er zeigte
ihnen die Welt, wie nur Großväter ihren Enkeln die Welt zeigen können. Mit großer Gebärde setzte er zu längeren Erklärungen an … ich befürchtete manchmal, dass er ungeduldig werden könnte, wenn ihm die Enkel nicht so an den Lippen hingen, wie er es sich vorstellte. Mein Vater konnte nämlich sehr schnell sehr ungeduldig und unbeherrscht werden. Aber nein, die Enkel lauschten ihm fasziniert, sogar bei Themen, bei denen wir uns als Kindergelangweilt abgewandt hätten. Er zeigte ihnen die barocke Schönheit der Wieskirche. Er erklärte ihnen den Sternenhimmel in den Allgäuer Alpen. Er nahm sie mit ins klassische Konzert und kriegte sich tagelang nicht ein, weil selbst sein jüngster Enkel so still dagesessen und eifrig gelauscht hatte. Ganz anders als seine Mutter (also ich), die immer auf ihrem Stuhl herumzappelte. Bis heute tat sie das! – „Elisabeth, die Enkel sind die Krönung unseres Lebens“, pflegte er zu
meiner Mutter zu sagen. Den Satz versteht allerdings nur ganz, wer weiß, wie problematisch die Ehe meiner Eltern war.

Mein Vater war ein schwieriger Mann. Er hatte natürlich ein unbearbeitetes Kriegstrauma, vielleicht sogar mehrere. Und er war auch sonst nicht leicht zu haben. Er war jähzornig und tobte – für uns Kinder völlig unberechenbar – herum, sobald ihm eine Laus über die Leber lief. Die Anlässe waren absolut nichtig, ja, oft bildete er sich nur ein, dass man ihn nicht respektiert hätte. Sein Jähzorn war sprichwörtlich in der Nachbarschaft, manchmal hörte man ihn die ganze Straße hinunterbrüllen. Ich hatte bis ins fortgeschrittene Erwachsenenalter Angst vor ihm und seiner herrischen Art, noch als er zu Tode erkrankt war, zuckte ich bei bestimmten seiner Gesten zusammen.

Die Herzen seiner Enkel hat sich mein Vater durch stete Liebenswürdigkeit erobert. Aber mein Herz hatte er lang zuvor schon verschreckt. Dass er darunter
gelitten hat, wurde mir erst klar, als ich nach Jahren der Vater-Abstinenz wieder seine Nähe suchte. Ich studierte bereits in Köln und mir gefiel die
herzliche Art des Umgangs dort. Als ich dann wieder zu den Eltern (eigentlich vor allem zur Mutter) fuhr, dachte ich: Warum umarmst du ihn
nicht einfach? So, wie du deine Kölner Freunde umarmst? Ich weiß noch genau, wie er in der Tür stand und ich ihn in die Arme schloss. Er war sofort bei mir und streckte mir innerlich die Hand entgegen. Wir hatten keine Aussprache, nein, so etwas war undenkbar. Aber wir waren uns wieder gut und wussten es. Das war der erste Schritt unserer Versöhnung. Der zweite, nachhaltige, geschah mit der Geburt und dem Großwerden unserer Kinder. In der Rückschau muss ich sagen: Seine Strafen trafen mich wie Blitzschläge des Zeus, aber ich habe ihn natürlich auch nicht geschont als junges Mädchen. Ich holte ihn aus der Deckung – und wunderte mich dann über seine Schutzlosigkeit. Er war wie ein rohes Ei. Viel später erst, als meine Kinder mir gegenüber richtig fies und renitent wurden, erkannte ich, dass ich ganz ähnlich war wie er. Ich war nämlich auch ein rohes Ei. Und genauso trostbedürftig wie er. Solche Einsichten
helfen einem enorm dabei, den Eltern zu verzeihen – und noch viel mehr hilft die Enkelliebe der Großeltern. Mit seiner Liebe und seiner Aufmerksamkeit meinen Kindern gegenüber punktete er enorm. Wer meine Kinder mag, hat bei mir immer einen Stein im Brett – das ist sicher bei jeder Mutter so. Und natürlich waren die Enkel die Chance im Leben meines Vaters, sich mit der eigenen Herkunftsfamilie, seiner Frau, seinen Töchtern und auch mit sich selbst zu versöhnen. Die Enkel kannten das wunde Tier in ihm nicht (und wenn, dann nur in Teilen). Sie liebten ihren Großvater ganz unbeschwert zurück. Ihre Konflikte trugen sie mit ihrer Mutter aus, der Opa war heilig und hat das sehr genossen.

In seine alte Heimat Pommern hat mein Vater nie wieder fahren wollen, auch nicht in meiner Begleitung. Ich konnte das lang nicht verstehen – bis ich selbst vor dem kleinen Bauernhaus an der Ostsee stand, in dem seine geliebten Großeltern gewohnt hatten. Von der Großmutter sprach er öfter. Wie sie das Brot vor der Brust hielt, wenn sie es aufschnitt. Sie verstarb vor Kriegsbeginn. Der Großvater aber, eine Respektsperson im Dorf, war auf der Schwelle seines Hauses von russischen Soldaten erschossen worden. Die Tochter, meine verehrte Großmutter, konnte mit dem jüngsten Kind, ihrer Tochter Ilse, fliehen. Aber natürlich nicht unversehrt. Mein Vater war noch mit 17 eingezogen worden und stand im Mai 45 bei Prag, was aber niemand in der Familie wusste. Wie auch? Und als ich siebzig Jahre später in Pommern war und die Türschwelle sah und keinen Urgroßvater darin stehen (wie auch), hätte es mich fast zerrissen. Dein Vater, sagte mein Mann später, hätte eine solche Reise gar nicht ausgehalten. Das war der Grund. Meinen Großvater väterlicherseits habe ich nie kennengelernt und er hat auch nie einen seiner Enkel gesehen, weil er bereits in den Fünfzigerjahren verstarb. Er muss auch ein schwieriger Mann gewesen sein, der tagelang nicht mit seiner Frau sprach, wenn er beleidigt war. Aber er weinte, als sein jüngster und von nun an einziger Sohn vor ihm stand. Er hatte ihn für verloren gehalten. Mein Vater war tatsächlich der erste Rubow, der wieder aus vollem Herzen Großvater sein konnte. Ihm zuliebe habe
ich meinen Nachnamen behalten.

Für seine Enkel ist der Opa bis heute und also über seinen Tod hinaus eine Autorität. Aber keine fremdbestimmende (wie bei mir, pardon, Papa), sondern eine, die fördert und unterstützt, wo sie nur kann. Der Opa war ihr größter Fan in allem, was sie taten. Egal, ob sie im Kinderchor sangen, YouTube-Filme drehten, Akkordeon spielten oder (das Beste für ihn) an „seiner“ Uni, der Humboldt-Universität zu Berlin, studierten. Diese großväterliche Unterstützung
hat auch uns Eltern gutgetan, ebenso wie die großmütterliche Unterstützung. Aber das ist noch einmal eine andere Geschichte … – Niemand nimmt so an der Entwicklung deiner Kinder teil wie die Großeltern, hat jemand mal geschrieben. Das stimmt genau! Niemandem sonst kannst du stundenlang von ihren kleinen Fortschritten berichten und sie fragen immer noch interessiert nach, auch nach der 23. Großtat des einzigartigen Enkels.

Bis heute erzählen viele reife Männer, dass sie an ihren Enkeln oder auch an den nachgeborenen Kindern in zweiter Ehe Dinge wiedergutmachen, die sie an ihren eigenen Kindern versäumt hätten. Das ist natürlich etwas bitter für die erwachsenen Kinder – aber es ist auch eine Chance, sich mit dem Vater zu versöhnen. Mit dem Vater versöhnt zu sein, bevor dieser stirbt, ist, das kann ich mit Sicherheit sagen, mit das Beste, was einem im Leben passieren kann.

Vielen Dank dafür, Papa.

 

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